Sie sind wütend, sie misstrauen dem Staat, dem „System“, der Demokratie. Und an Montagen trifft man sie auf der Straße. Bringt Reden da noch was?
Immer wieder montags treffen sich die selbsternannten „Freigeister“ auf dem Marktplatz in Frankfurt Foto: Jens GyarmatyPeggy Lohse 26.11.2022, 18:43 Uhr
Störungen wie diese kommen an dem Abend vor allem aus der Ecke vorne rechts. Dort stehen die „Frankfurter Freigeister“. Die Gruppe organisiert die Montagsdemos in der Oderstadt, wo sich seit Monaten die Stimmung aufheizt. Auch die schreiende Frau ist regelmäßig dabei, wenn Tausende Menschen trommelnd, pfeifend und schreiend vom altstädtischen Rathausplatz durch die Innenstadt in ein nahegelegenes Plattenbaugebiet und wieder zurück ins Zentrum ziehen.
Auf der Demo verrät eine schwarze Flagge mit dem Slogan „Widerstand lässt sich nicht verbieten“ in altdeutscher Schrift, dass auch Anhänger*innen der Reichsbürgerbewegung mitlaufen. Vereinzelt tragen AfD-Anhänger Partei-Pullover. „Klar, sind hier Rechte“, sagt Kerstin. „Aber auch Linke, Grüne und andere. Wir sind alle ganz verschieden.“
Die wirtschaftlichen Folgen der Wiedervereinigung prägen die Stadt bis heute. Frankfurt , kreisfrei und Oberzentrum, ist noch immer eine der ärmsten Städte in Deutschland mit hohen Schulden. Seit 1990 ist die Bevölkerung um ein Drittel geschrumpft. Heute leben hier − eine Zugstunde von Berlin entfernt, direkt an der Grenze zu Polen − gut 56.500 Menschen.
Zuletzt war das 2004 der Fall, als regelmäßig Tausende Leute gegen die Hartz-IV-Gesetze protestierten. 2022 gehen nun ähnlich viele zu den Montagsdemos der „Freigeister“. Kerstin will sich nichts vorschreiben lassen, auch nicht auf der Demo. Wenn es eng wird, trägt sie Maske: „Da werde ich auch blöd angesprochen. Aber das ist für mich Freiheit − meine Entscheidung, ohne Zwang!“ Als ein Redner gegen „Genderwahn“ wettert, ärgert sie sich: „Das finde ich nicht gut.
Auf den Frankfurter Montagsdemos bestimmen die Demokratiefeindlichkeit und der starke Antiamerikanismus auch die Sicht auf den russischen Krieg gegen die Ukraine. Die Kreml-Propaganda füttert dieses Narrativ seit Jahren mit eigenen Medienkanälen sowie prorussischen Blogger*innen in Westeuropa. Bei den Systemzweifler*innen kommt das gut an.
In der ersten Oktoberwoche gibt es in Frankfurt an fünf Tagen sechs Demonstrationen. Wilke spricht auf zweien: am Donnerstag zu besorgten und verärgerten Handwerker*innen der Region, unter ihnen viele Montagsprotestierende. Am Samstag besucht Wilke Schwimmer*innen, die den Erhalt des lange sanierungsbedürftigen Hallenbads fordern.
Angst habe er nicht, sagt Wilke. „Dafür habe ich zu viel Grundvertrauen.“ Aber gerade fallen viele schwierige Themen zusammen: Migrationsbewegungen, Polarisierungen rund um Corona und die Preissteigerungen. „Heilige Scheiße“, sagt Wilke und erschreckt sich. Solche Wörter benutzt er im Arbeitskontext normalerweise nicht. Aber er ist eben besorgt über die steigende Empörung in der Stadtgesellschaft.
Die Montagsproteste seien, so ein Sprecher der Meldestelle gegenüber der taz, ein „Dammbruch“ für Frankfurt: „So große, nach rechts offene Demonstrationen finden erstmals seit Jahrzehnten praktisch ohne jeglichen Protest der Zivilgesellschaft statt.“ Rechte Symbolik und Rhetorik kämen hier gerade tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft an.
Günter findet: Die Linke sollte die Herbstproteste anführen. Mit ihren Dienstagsdemos seit September haben sie das allerdings nicht geschafft. Einen Tag nach der Großdemo der Freigeister, am 4. Oktober, kommen wieder nur gut 30 Leute zu der Kundgebung seiner Partei. Bis Günter an diesem Tag seine vielen politischen Banner vorm Rathaus aufgehängt hat, ist der kleine Aufmarsch schon fast wieder vorbei.
Da wird er schon unterbrochen. „Wer’s glaubt!“, brüllt ein Mann. Die Menge buht, trommelt, pfeift, trötet durcheinander. „Lügner!“. Papendieck entgegnet ruhig, obwohl seine Rede in dem Tumult kaum zu hören ist: „Bezüglich der Bundeswehr: Es ist ja das Sondervermögen beschlossen worden …“ Wieder übertönen ihn Zwischenrufe: „Wir frieren nicht für euern Krieg!“ und „Zynischer geht’s nicht!“
Fünf Diskutierende gehen mit ihm um 22 Uhr noch in die Kneipe am Platz. Sie sind die letzten Gäste, setzen sich an einen Tisch im ersten Obergeschoss. Vor bodentiefe Fenster mit Blick auf das Kopfsteinpflaster des nun leeren, dunklen Rathausplatzes. In der folgenden Oktoberwoche sinkt die Teilnehmendenzahl bei der Montagsdemo weiter. Nur noch 1.100 Menschen kommen am 17. Oktober, 200 Menschen weniger als kurz zuvor.
Auch René Wilke ist da. Gerade noch sagte er auf der Dienstagskundgebung der Linken zu kommunalen Nothilfen: „Für jedes Problem gibt es eine Lösung.“ Nun wirft er Gregor Gysi skeptische Blicke zu, als der sagt: „Die Linke hat ihre Identität als Partei der Ostdeutschen verloren und so der AfD das Feld überlassen.“
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